Incom ist die Kommunikations-Plattform der Hochschule Anhalt Fachbereich Design

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Schau doch mit den Ohren!

Wie 'sehen' Blinde? Und geht man überhaupt ins Museum, wenn man nichts sieht? - Diese Projektdokumentation beantwortet diese Fragen und zeigt den Entstehungsprozess eines Konzeptes, dass sehbeeinträchtigte und blinde Personen sowie Sehende gleichermaßen in Museen berücksichtigt. Das Projekt beschäftigt sich mit Sounddesign und philosophischer Interpretation von Gemälden bis hin zu einer praktischen und inklusiven Lösung.

Hintergrund

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Anlässlich des Festivals zum 250. Geburtstag von Caspar David Friedrich, einem bedeutenden deutschen Maler, beschäftigten wir uns in Kooperation mit der Hamburger Kunsthalle nicht nur mit dem Thema Romantik, sondern auch damit, wie wir digitale Geräte in das Museum einbeziehen können, jedoch anders als durch herkömmliche Bedienungsgesten. Viel mehr ging es darum, immersive Navigationsmetaphern und -szenarien zu entwickeln und den eigenen Körper in diese einzubeziehen.

Besucherinterview in der Hamburger Kunsthalle

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Unsere Recherchephase begannen wir mit einem Besuch der Hamburger Kunsthalle. Im Ausstellungsraum, der die Romantik thematisiert und die Werke Friedrichs beheimatet, beobachtete ich zunächst die Besucher. Dabei fiel mir auf, dass die meisten Menschen wie vor einer Wand standen und eine große räumliche sowie emotionale Distanz zu den Gemälden aufbauten. Selbst wenn die Besucher einige Zeit die Gemälde betrachteten, hatte ich das Gefühl, dass sie diese zwar verstanden aber nicht begriffen, welche Emotionen und Gefühle Friedrich transportieren wollte.

Im nächsten Schritt befragte ich die Besucher stichprobenartig und wollte von ihnen einen persönlichen Bezug zu den Kunstwerken oder dem Museum erfahren, doch vielen fiel es schwer, auf die Fragen zu antworten oder die Emotionen zu beschreiben, die sie ergriffen, als sie das Museum betraten oder ihre liebsten Werke betrachteten.

Ich versuchte eine möglichst große Altersspanne einzubeziehen, doch egal ob jung oder alt, auf eine Frage antworteten alle gleich: Technik, mobile Geräte und Bildschirme haben im Museum nichts zu suchen. Die Besucher sind einzig und allein dort, um die Kunstwerke auf sich wirken zu lassen, etwas aus ihnen zu lernen und die Atmosphäre zu genießen. Der Museumsbesuch hat für die meisten ein romantisches Motiv - die Flucht aus der realen Welt.

Personas und HMW-Questions

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Aus den Interviewergebnissen konnte ich zwei Personas herauskristallisieren. Miriam ist eine Persona, die ich leider nicht angetroffen habe. Sie ist blind. Dabei stellte ich mir die Frage, warum ich Miriam oder eine andere blinde oder sehbeeinträchtigte Person nicht angetroffen hatte. Eine Frage, die ich mir im späteren Verlauf des Projekts noch beantwortete.

Zu allen drei Personas kann man aber sagen, dass sie einen Zugang zur Kunst suchen und mit den Werken eine emotionale Bindung aufbauen wollen. Sie suchen einen neuen Blickwinkel, einen Interpretationsansatz.

Doch wie kann ich einen neuen Interpretationsansatz für die Besucher des Museums schaffen?

Was bedeutet Romantik für mich?

Um das Museum für die Besucher auf eine neue Art erlebbar zu machen, fragte ich mich zunächst was die Romantik für mich bedeutet. 

Bereits in der Schule haben mich die Emotionen der Romantik, die durch Kunst und Literatur transportiert werden stark beeindruckt. Romantische Motive wie Wandern, Tagträumen; die Mystik, die in vielen Bereichen im Mittelpunkt stand oder der starke Gegensatz von realer Grausamkeit und emotionaler Fantasie haben mich fasziniert.

Inspiration

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Ein ähnlich beeindruckendes Gefühl hatte ich bei dieser Installation von Annika Kahrs über „Shifting Sounds“ in einem anderen Teil der Ausstellung. 

Man betritt einen großen schwarzen Raum mit Videoprojektionen, in denen Giraffen von einem Oktobass vertont werden. Kahrs zeigt hiermit, wie Ton und Bild miteinander kommunizieren.

Musik oder Sound kann eine Situation extrem beeinflussen und das war in diesem Raum deutlich zu spüren. 

Diese Installation warf bei mir die Frage auf, wie Blinde und Sehbeeinträchtigte eigentlich sehen. Auf welche Sinne verlässt man sich, wenn man sich auf die Augen nicht verlassen kann? 

Neben dem Tast- und dem Riechsinn ist es vor allem das Hören. So bewegen sich Blinde ohne Stock oder Begleitung völlig frei in einem Raum den sie kennen, durch das bloße Schnipsen der Finger und dem dabei entstehenden Geräuschen, die auf sie zurückfallen.

Idee

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Durch alle diese Informationen und Eindrücke kam ich auf folgende Idee: 

Über Kopfhörer wird beim Betreten der Kunsthalle von allen Gemälden Sound abgeben. Es entsteht eine Art Klangbett. Durch das Bewegen im Raum bestimmt man selbst welches Gemälde einen anspricht und woher der Sound kommt. Je dichter man an ein Gemälde herantritt, desto detaillierter wird nicht nur die Auflösung sondern auch der Sound, sodass sich alle Ebenen zusammensetzen und man in eine völlig neue Welt eintauchen kann.

Prototyp am Beispiel des Gemäldes Eismeer Friedrichs

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Um ein Gemälde in Ton zu übertragen, übersetzte ich es zunächst in Text und anschließend in Klang. Verdeutlicht habe ich diesen Vorgang zunächst anhand des 'Eismeers' von Casper David Friedrich.

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Hierbei habe ich mich mit der Interpretation des Gemäldes auseinandergesetzt und dieses in Vordergrund, Mittel- und Hintergrund aufgeteilt. Im nächsten Schritt überlegte ich, was diese Interpretation für Emotionen in mir auslöst und wie diese Emotionen klingen könnten.

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Diese Aufschlüsselung des Gemäldes habe ich genutzt, um in Zusammenarbeit mit einem tollen Musiker, Komponisten und Künstler folgende Komposition anzufertigen. Bei dieser loopen sich Vorder-, Mittel- und Hintergrund so, dass egal mit welcher Geschwindigkeit man an das Gemälde herantritt, der Sound der einzelnen Ebenen immer zusammenpasst.

Hindernisse

Nach Anfertigen dieser Komposition, die sich für mich nach einer sehr guten Lösung anfühlte, kam mir der Gedanke, dass diese den Interpretationsspielraum des Betrachters einengen oder eine Interpretation vorwegnehmen könnte.

Deshalb beschäftigte ich mich mit Alternativen der Sounderstellung.

Alternativen

Die soundbasierten KI's Mubert und Sounddraw, die Text in Klang umsetzen, habe ich für die Erstellung meines zweiten Prototypen verwendet. Ich testete sie und gab ihnen einen Satz aus meiner vorangegangenen Umsetzungsanalyse des 'Eismeers'.

Die Umsetzung durch die KI´s hat mich nicht überzeugt. Für mich fühlten sind diese Sounds, wenn sie alleine stehen, nicht nach Romantik und dem Zeitgeist dieser Epoche an. Auf mich wirkten sie unemotional, kalt, vielleicht auch ein wenig zu modern dafür, dass ich die Gefühle der Romantik erlebbar machen wollte.

Interview mit Gerd Franzka

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Im nächsten Schritt war es wichtig, eine blinde Person zu befragen. Gerd Franzka hat seine Geschichte und seine Sicht auf die Welt, die Kunst und die Museen mit mir geteilt. 

Franzka ist seit seinem ersten Lebensjahr durch Tumorerkrankungen im Kopf blind. In seinem Leben hat er einiges erreicht. Er gewann zweimal als Läufer bei den Paralympics die Silbermedaille und leitet heute eine physiotherapeutische Praxis im Spreewald.

In seiner Freizeit ist er musikbegeistert, doch Museen, so berichtet Franzka, seien nichts für ihn, da er mit der Kunst nichts anfangen könne. Er kenne die bestehenden Möglichkeiten wie Audioguides oder Blindenführungen, in denen er Kunstwerke bis ins kleinste Detail analysiert bekomme, doch einen Zugang finde er dadurch nicht. 

Franzka beschreibt weiterhin, wie sehr er sich auf sein Gehör verlassen müsse. Durch seine Augen sähe er nichts. Es sei weder schwarz noch weiß, denn er wisse nicht, wie Farben aussehen. Er könne sich ohne Begleitung durch die Welt bewegen und verließe sich dabei einzig und allein auf sein Gehör. 

Im Rahmen meines Interviews spielte ich ihm meinen ersten Prototypen vor. Dabei erklärte ich ihm aber nicht, worum es bei dem Gemälde 'Eismeer' geht. Er wirkte erstaunt über die Gefühle, die ihn überkamen und beschrieb es als kalt und düster und sprach über das Meer. Er erkannte aber auch die aufbrechende Stimmung am Ende der Komposition. 

Anschließend beschrieb ich ihm das Gemälde wie in meiner Aufschlüsselung. Er stimmte mir bei der emotionalen Beschreibung des Gemäldes zu.

Er könne es sich gut vorstellen, dass derartige Musik in Museen ihm helfe, Kunst und dessen Bedeutung zu verstehen. Solch ein Angebot könnte ihn animieren, Museen und Ausstellungen zu besuchen.

Technische Umsetzung

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Für eine theoretische technische Umsetzung holte ich mir Rat von Karsten Schuhl. 

Für mein Vorhaben wäre es möglich, die Räume in Museen durch Sensoren auszumessen. Über ein an Kopfhörern befestigtes Modul wissen die Sensoren im Raum immer genau, wo sich eine Person bewegt, wie schnell sie sich einem Gemälde nähert oder auf welcher Seite des Gemäldes sie sich befindet. Datenträger für die Musik ist ein Audioguide. Einige Museen nutzen die technische Lösung bereits für ihre Audioführungen, so zum Beispiel Dresden. 

Meine anfängliche Idee, dieses System in die App der Hamburger Kunsthalle zu integrieren, ließe sich nur durch viel Programmierarbeit verwirklichen, da es viele verschiedene Handys und Betriebssysteme gibt.

Musikalische Umsetzung

Für meinen endgültigen musikalischen Prototypen stand ich vor der Herausforderung, alle Bedürfnisse und Anforderungen zu berücksichtigen.

Wie klingt ein Gemälde, wenn die musikalische Untermalung weder zu durchkomponiert, noch zu technisch sein darf? Jemand der nur durch seine Ohren sieht, braucht eine Art Komposition, die ihn nicht zu stark in eine Interpretationsrichtung drängt.

In einer Heatmap machte ich mir nochmal klar in welche Bildbereiche das Gemälde unterteilt ist und ordnete alle Emotionen und Begriffe, die mir selbst in den Sinn kamen, die Gerd Franzka mir nannte und die textbasierten KI´s, wie Chat GPT generiert hatten.

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Ich kam zu dem Schluss, dass es eine Kombination aus allen getesteten Komponenten sein musste. Also verwendete ich Teile meiner vorherigen orchestralen Komposition, KI-generierte Musikstücke und PlugIns von Komplete Kontrol  (Native Instruments) und komponierte unter Berücksichtigung der Beschreibung Franzkas einen neuen musikalischen Prototypen. 

Ich kam zu der Erkenntnis, dass ich zwar die Emotionen der Zeit der Romantik den Besuchern nahebringen will, aber einen modernen Touch in der Musik benötige, um sie für die heutige Zeit nahbarer zu machen.

Produkt und Zielsetzung

Ziel diese Projektes ist es nicht nur einen Zugang zu den Emotionen der Romantik zu schaffen, sondern vor allem einen Zugang zur Kunst. Ich möchte für Sehende, Blinde und Sehbeeinträchtigte gleichermaßen die Distanz  zur Kunst und somit zu Museen  verringern und neuen, greifbaren Raum für Interpretationen schaffen. Es ist nicht inklusiv einen Ausgleich für den Sehverlust bei Besuchern zu schaffen, sondern wahre Inklusion ist es, Sehende dazu zu bewegen, die Nutzung der Sinne zu verlagern.

Fazit

Abschließend kann ich sagen, dass ich sehr zufrieden mit meinem Projekt bin und viel Spaß bei der Ausarbeitung hatte. Aus der anfänglichen Intention, Bildschirme mal anders zu nutzen, ist eine inklusive Arbeit geworden, die hoffentlich wirkliche Anwendung findet. Blinde und Sehbeeinträchtigte sind eine bedeutende Personengruppe unserer Gesellschaft und müssen mit Selbstverständlichkeit inkludiert werden und dafür braucht es Ansätze und Lösungen. 

Ich selber konnte mir mit diesem Projekt aus vielen Bereichen Wissen aneignen, auf das ich in meiner künftigen Arbeit zurückgreifen kann.

Ein Projekt von

Fachgruppe

Integriertes Design

Art des Projekts

Studienarbeit im zweiten Studienabschnitt

Betreuung

foto: Prof. Severin Wucher

Zugehöriger Workspace

GP 2d/4d: Navigation beyond Hamburgers

Entstehungszeitraum

Sommersemester 2023

Keywords