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Talkr. - Das digitale Grübeltagebuch

Im Studio-Modul Digital Health Innovation stand zur Aufgabe, digitale Interventionen zu gestalten, die entweder Strukturen des Gesundheitswesens oder die Behandlung konkreter Beschwerden unterstützen.

Mit talkr. stellte ich mich der Herausforderung, ein Hilfsmittel zur Behandlung mentaler Belastungen, Depressionen u. ä. Krankheitsbilder zu entwerfen.

01 Recherche

Ein kurzer Blick auf den aktuellen Trend der innerdeutschen Epidemiologie machte mir die Entscheidung leicht, mich dem Thema der mentalen Gesundheit, genauer der Krankheit Depression, anzunehmen.

Oft besprochen mit wenig Effekt: Seit geraumer Zeit steigt mit jedem Jahr die Zahl der Krankheitsfälle und nicht selten gehen diese mit seelischen, sozialen, wirtschaftlichen und Personenschäden einher. Nach aktuellem Stand erkranken jährlich über 5 Millionen Menschen (zw. 18.-90. LJ.) an Depressionen, zudem sind über 10.000 Suizide zu verzeichnen. Und trotz allem scheint es in der aktiven Behandlung kaum Neuerungen zu geben. 

Häufigkeit der Depression

Suizide in Deutschland

Es erschien mir also angemessen, an dieser Stelle zu intervenieren.

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Es erfolgte zunächst eine inhaltliche Recherche.

Hauptaugenmerk lag auf den Ausprägungsformen der Depression, deren Symptomen, Ursachen und Behandlung.

Es zeichnete sich schnell ab, dass eine kausale Bekämpfung der Depression nahezu unmöglich ist, da die Einflussfaktoren von Person zu Person variieren und komplex miteinander verknüpft sind, wodurch kein Ansatzpunkt ausgemacht werden kann, ohne dabei weitere „Wundpunkte“ zu übergehen. Demnach legte ich den Fokus für meinen Entwurf auf die Symptomatik und Therapie.

Symptome Depression

Weitere Gesichtspunkte der Recherche waren u. a. Hilfsmittel und Skills, wie sie in der Psychotherapie eingesetzt bzw. vermittelt werden, bestehende Interventionsmaßnahmen im Kontext mentaler Gesundheit (bspw. Psychotherapie, sekundäre Therapieformen, Apps, Seminare, Telefonseelsorge) - ihren Stärken und Schwächen, Persönlichkeitsentwicklung und Psychohygiene.

Therapie Depression

Kann es in Anbetracht des komplexen und höchst individuellen Krankheitsbildes ein Mittel geben, das für die meisten (oder gar alle) PatientInnen zugänglich ist?

Schlagwörter der Recherche:
Antriebslosigkeit, Motivationslosigkeit, Suizidalität, Grübeln, Ängste, Lebensqualität, Routine, Ethik, Künstliche Intelligenz in der Psychotherapie, Resilienz, Katharsis, Selbstwertgefühl, Anforderungen

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02 Konzept

Anfängliche Prototypen

Für die anfänglichen Prototypen ließ ich mich von bestehenden Interventionen und Hilfsmitteln inspirieren.

An erster Stelle stand die Telefonseelsorge. Die Recherche brachte überraschend hohe Zahlen zum Vorschein: deutschlandweit sind 8000 Ehrenamtliche tätig, die rund um die Uhr den jährlichen 1,5 Mio. Kontaktaufnahmen (Anruf, E-Mail, Chat) ein offenes Ohr schenken. Es scheint demnach ein äußerst hoher Redebedarf zu bestehen, kann dieses Konzept die Lösung sein, in Anbetracht des ungleichen Verhältnisses?

Statistik der Telefonseelsorge

Meine Idee bestand darin, dieses Ungleichgewicht zu beheben. Mithilfe eines in Messenger-Dienste implementierten Netzwerkes, sollte einerseits die Reichweite der Hilfesuchenden vergrößert und andererseits die Arbeitslast der Hilfegebenden verringert werden.
Logistische Herausforderungen und die Frage, wie man weitere (ohnehin bereits ausgelastete) HelferInnen gewinnt, brachten das Konzept an seine Grenzen.

Die zweite Idee wurde vom Sorgenfresser inspiriert. Der Sorgenfresser ist ein Avatar, i.d.R. ein physisches Stofftier, dem man seine Sorgen anvertrauen kann, welche er daraufhin verschlingt.
Die persönliche Umgangsform kann dabei ganz individuell ausfallen:
von sanftmütig bis rabiat.
Diese Prinzipien wollte ich digital aufgreifen. Zunächst konzipierte ich eine Spiele-App im Sinne der Katharsis, d. h. der emotionalen Entladung. Der Sorgenfresser fungierte dabei als metaphorischer Sandsack, um innere Anspannungen zu lösen. Weitere Nachforschungen zeigten jedoch, dass vergleichbare Anwendungen bereits existierten, wodurch sich die Innovation erübrigte.
Die zweite Ausführung des Sorgenfressers war dagegen deutlich näher am Original. Während die NutzerInnen ihre Sorgen ins Smartphone sprechen, ähnlich einem Tagebucheintrag, lauscht der Avatar dem Gedankenstrom und nimmt diesen auf. Eine hinterlegte KI wertet die Einträge aus und macht Veränderungen in der mentalen Verfassung der NutzerInnen deutlich, z. B. anhand des symbolischen Überganges von Knospe zu Blüte.

KI in der Erkennung von Depressionen

Zwar wurde auch die Idee vom Avatar verworfen, da diese sehr spezifisch sind und nur eine begrenzte Zielgruppe erreichen, doch war der letzte Prototyp grundlegend für das finale Resultat.

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Finales Konzept

Das Konzept der finalen talkr.-App setzt sich aus 3 wesentlichen Bausteinen zusammen:

1. Grübeltagebuch

Kern der App ist das Grübeltagebuch. Per Spracheingabe können NutzerInnen, die unter Depressionen, Stress o. ä. Umständen leiden, ihre Gedanken ins Smartphone einsprechen. Diese werden von der App in Textform transkribiert und zur späteren Ansicht archiviert.

Grübeltagebücher kommen häufig in der Psychotherapie zum Einsatz. Grundidee ist dabei zum einen, die Gedanken, die einen beschäftigen, abzuschütteln, und zum anderen, die Momente zu reflektieren, in denen jene Gedanken aufkamen. Viele Studien und Fachartikel bestätigen die Theorie, dass das Reflektieren und Verbalisieren bestehender Gedanken zur Verbesserung des Wohlbefindens beitragen, sowie das Selbstbewusstsein stärken. Nicht ohne Grund entwickelt sich Journaling derzeit zu einem wahren Trend.

Schreiben für ein besseres Wohlbefinden

Nichtsdestotrotz stehen vielen PatientInnen Hemmungen im Wege, sich mit der Idee eines Tagebuches anzufreunden. Gerade für Menschen, die nie zuvor ein Tagebuch geführt haben, ist die Idee ungewohnt. Zudem ist schreiben ein stark kontrollierter Prozess. Jeder Gedanke, jeder Satz wird mehrfach überdacht, um ihn sachgemäß zu Papier zu bringen, was den gesamten Prozess lähmen kann. Gerade im Rahmen einer depressiven Störung kann eine geordnete Ausformulierung der Gedanken schwerfallen, aufgrund unterschiedlicher Symptome, wie z. B. Konzentrationsstörung, Gedankenflucht, Gedankenkreisen oder Denkhemmung.

Anders soll es in der talkr.-App sein: dank Spracheingabe sind die Gedanken intuitiv, authentisch und ungefiltert. Das geschriebene Wort ist kontrolliert und kann nachträglich abgewandelt werden, wohingegen das gesprochene Wort endgültig und echt ist.

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2. Wohlfühl-Index

Der Wohlfühl-Index, basierend auf der LSZ-Skala von R. Holm-Hadulla et al. ist ein Hilfsmittel zur Quantifizierung des aktuellen Wohlbefindens auf einer Skala von 1-7.
Bei Benutzung der App wird dieser Fragebogen durchlaufen und somit ein Ausgangswert für den weiteren Verlauf ermittelt.

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3. Künstliche Intelligenz (KI)

Künstliche Intelligenz erfüllt die Aufgabe, die gesprochenen Einträge auszuwerten und Veränderungen in der mentalen/emotionalen Verfassung der NutzerInnen zu verzeichnen.

Die talkr.-App erfüllt nicht nur die Funktion eines Tagebuches, sondern führt auch den gesamten Wandlungsprozess vor Augen. Dieser Aspekt ist für das Nutzungserlebnis essenziell. Denn anders als bei einem Infekt, ist die Behandlung einer Depression ein mitunter langwieriger Lernprozess. 

Man kennt es aus der Schule, im Hobby und vielen weiteren Situationen. Man zweifelt an der eigenen Leistung, wird entmutigt und zweifelt am gesamten Vorhaben. Erst rückblickend wird bewusst, wie weit man inzwischen gekommen ist. Nur stellt sich die Frage, wann und wie oft man die eigene Leistung reflektiert? Vor allem dann, wenn die Depression ohnehin alles negativ erscheinen lässt?

Ähnlich kann es sich auch in der Therapie verhalten. Die Visualisierung der mentalen Reise soll NutzerInnen ermutigen, die verzerrte Wahrnehmung umgehen und die bereits erreichten Ziele vor Augen führen.

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03 talkr.-App

Hier geht's zum Prototypen auf Figma!
(Für eine optimale Darstellung bitte das Smartphone nutzen))

04 Nutzergruppe

Talkr. ist in erster Linie als begleitendes Hilfsmittel im psychotherapeutischen Kontext konzipiert worden. Demnach richtet sich die App an alle PantientInnen, die sich zum gegebenen Zeitpunkt in Behandlung befinden.

Nichtsdestotrotz kann die App natürlich auch als privates Tagebuch zur Selbstüberwachung genutzt werden. Da Mental Health ein ständig wachsendes Thema in der Gesellschaft wird, ist auch im Privatbereich die Nutzergruppe groß.

Zur Anwendung wird ein Grundverständnis im Umgang mit digitalen Medien vorausgesetzt. Demnach wird die primäre Altersspanne zw. 14.-60. LJ. angesetzt. Mit zusätzlichen Anpassungen im Ux/Ui (Stichpunkte: kindgerecht, Barrierefreiheit) kann die Zielgruppe zusätzlich erweitert werden.

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05 Ergänzende Gedanken

Ethik

In den Umfragen und Tests kamen bei den ProbandInnen immer wieder begründete Bedenken hinsichtlich künstlicher Intelligenz im psychosozialen Kontext auf. Auch in der Fachwelt wird das Thema heiß diskutiert. Gerade in sensiblen Gesichtspunkten, wie z. B. Datenschutz und Gefährdungspotenzial, kommen Fragen auf, die nicht zweifelsfrei beantwortet werden können.

Dabei hat KI großes Potenzial. Bereits heute ist es auf dem technischen Stand, Veränderungen im Kommunikationsverhalten erfassen und Frühwarnzeichen für psychische Erkrankungen erkennen zu können.
In Anbetracht des wachsenden Bedarfs an psychologischer Versorgung, könnte KI künftig eine große Entlastung für das menschliche Personal bieten.

Risiken und Chancen von KI im Bereich psychischer Gesundheit

Ich entschied mich also für den Kompromiss, KI nicht als Diagnosemittel bzw. Ratgeber einzusetzen, sondern vielmehr als Begleiter, der die Leistungen der NutzerInnen spiegelt. Anwender haben stets das letzte Wort und die Möglichkeit, die Angaben der KI zu revidieren, sollten sie diese als fehlerhaft empfinden.

Wirtschaftliche Aspekte

Wie auch herkömmliche Apps, finanziert sich talkr. durch Direktkäufe über gängige Verkaufskanäle. Der zuvor erwähnte Aufwärtstrend im Journaling wird durch wachsende Downloads verwandter Apps bestätigt und verspricht auch im Falle talkr. eine positive Bilanz.

Im Falle einer Aufnahme in das DiGA-Verzeichnis (Digitale Gesundheitsanwendungen) durch das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) würden sich zusätzliche Finanzkanäle und Plattformen zur Nutzerakquise eröffnen.

Nach aktuellem Stand (Februar 2024) sind im DiGA-Verzeichnis 7 Anwendungen zu finden, die sich im Anwendungsbereich Burnout/Depression ansiedeln (insgesamt 25 in der Rubrik „Psyche“). Keine davon folgt dem Prinzip des Journalings, entgegen der hohen Nachfrage und dem therapeutischen Einsatz des Grübeltagebuches. Im Falle einer Aufnahme wäre dieser Aspekt ein Alleinstellungsmerkmal von talkr.

DiGA-Verzeichnis Psyche

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Ausblick

Für die Zukunft wäre auch eine Aufnahme in das DiGA-Verzeichnis (digitale Gesundheitsanwendungen) möglich. Ein solches Qualitätszeugnis könnte nicht nur die Reputation erhöhen, sondern auch weitere Umsatzkanäle eröffnen. Ferner sind Kooperationen mit öffentlichen Namensträgern denkbar.

Auflagen DiGA

Abschließend sei an dieser Stelle gesagt, dass alle zuvor getätigten Aussagen von hypothetischer Natur sind. Bis zur endgültigen Veröffentlichung, gerade im Hinblick auf DiGA, wären weitere Langzeittests zur Untersuchung auf Wirkung und Risiken notwendig, die den Rahmen eines Studienprojektes sprengen. Nichtsdestotrotz wurde bei der Recherche großer Wert auf fachliche Richtigkeit gelegt, sowie im gesamten Designprozess ethische Prinzipien nach bestem Gewissen berücksichtigt.

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06 Fazit

Der Einstieg in das Projekt war für mich, zugegeben, schwierig. Zwar konnte ich von meinen Vorkenntnissen in den Bereichen Gesundheit & Therapie profitieren, jedoch hatte ich Schwierigkeiten, diese Erfahrungen mit der großen „Unbekannten“ - der Digitalität - zu vereinen. Die Tatsache, dass dies mein erstes Projekt im Bereich Ux/Ui war, machte es mir nicht leichter, diese Hürde zu meistern.

Trotz dessen war ich motiviert, ein sinnvolles und vielversprechendes Konzept zu gestalten. Denn die geistige & emotionale Gesundheit ist ein Thema, das uns alle betrifft. Jeder von uns weiß, wie bitter das Leben schmecken und wie schnell ein Schicksalsschlag den Boden unter den Füßen wegreißen kann. Die Zahlen sprechen für sich: viele Menschen benötigen Hilfe, derartige Konfrontationen zu überstehen. Hilfe, die nur begrenzt verfügbar ist. Und nicht selten nehmen diese Konfrontationen ein tragisches Ende.

Wie cool wäre es, hier einen neuen Ansatz gefunden, oder zumindest einen weiteren Blickwinkel eröffnet zu haben?  

Ich will mir keineswegs anmaßen, mit talkr. (und Gott bewahre, ausgerechnet mit einer App) die ultimative Antwort auf ein fortwährendes Problem gefunden zu haben. Jedoch denke ich, ist es ein wichtiger (oder notwendiger?) Schritt, bereits heute vorhandene Ansätze (Gesprächstherapie, Tagebuch, etc.) mit den Möglichkeiten von morgen (Digitalität, KI) zu verknüpfen. Schließlich wandeln sich die täglichen Herausforderungen, die uns gegenüberstehen. Warum nicht also auch die Lösungen?

Entsprechend bin ich mit meinem Ergebnis sehr zufrieden. Sicherlich gibt es aus gestalterischer Sicht noch Verbesserungspotenzial, doch kann sich mein persönliches Pilotprojekt sehen lassen (hoffe ich).

Auch war die Arbeit mit digitalen Gestaltungs-Tools, wie Figma, eine wertvolle Erfahrung, von der ich für kommende Projekte mit Sicherheit profitieren werde.

07 Trailer

08 Präsentation

Digital Health Innovation Shared Presentation.pdf PDF Digital Health Innovation Shared Presentation.pdf

09 Plakat

Project Poster Template-MDE-113x160cm Montserrat.pdf PDF Project Poster Template-MDE-113x160cm Montserrat.pdf

Ein Projekt von

Fachgruppe

Intermediales Design

Art des Projekts

Studienarbeit im Masterstudium

Betreuung

foto: Prof. Hermann Klöckner foto: Prof. Alejandro Lecuna

Zugehöriger Workspace

DIGITAL HEALTH INNOVATION

Entstehungszeitraum

Wintersemester 2023 / 2024

Keywords