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Partizipation durch Design: Wege zu urbaner Nachhaltigkeit

Partizipation durch Design: Wege zu urbaner Nachhaltigkeit

Wie kann Design der Einzelperson helfen den öffentlichen Raum unbürokratisch, kostengünstig und kreativ mitzugestalten, um diesen ökologisch-sozial aufzuwerten?

Einleitung

Bis 2050 werden voraussichtlich 80% der Weltbevölkerung in Städten leben, die jedoch nur 3% der Landfläche beanspruchen und für 70% der Treibhausgasemissionen verantwortlich sind. Um den urbanen Raum angesichts von Extremwetterlagen lebenswert zu erhalten, ist eine rasche und umfassende Umgestaltung erforderlich. Hierbei spielen Straßen eine zentrale Rolle. Im letzten Jahrhundert wurden Städte vorwiegend autogerecht gestaltet, was nicht nur klimaschädlich, sondern auch lebensqualitätsmindernd ist. Es ist an der Zeit, Straßen zu Orten sozialer Interaktion zu transformieren, die Raum für Freizeitaktivitäten, Spiel, Erholung und nachbarschaftliche Netzwerke bieten.

Diese Transformation hat so weitreichende Folgen, dass es auf viele Menschen beängstigend wirken kann und Widerstände erzeugt. Es braucht mutige Politiker*innen die diese Veränderungen vorantreiben und überzeugende Narrative, sowie Erfahrungsräume für die Visionen menschengerechter Städte. Gleichzeitig müssen Möglichkeiten geboten werden, diese urbane Transformation aus der Bevölkerung heraus mitzugestalten. Einerseits um sie schneller voranzubringen und die breite Akzeptanz zu erhöhen. Andererseits um Menschen wieder teilhaben zu lassen an der Gestaltung ihres Lebensumfeldes, sie Verantwortung übernehmen zu lassen und ihnen die Möglichkeit zu geben sich zu kümmern anstatt sich nur zu sorgen.

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Forschungsfrage und Zielsetzung

Meine Forschungsfrage lautete: „Wie kann eine Einzelperson den öffentlichen Raum möglichst niederschwellig mitgestalten, um ihn ökologisch und/oder sozial aufzuwerten?“

Zielsetzung war es, durch experimentelle, gestalterische Interventionen Möglichkeiten aufzuzeigen und Erfahrungsräume für alternative Stadtgestaltung zu schaffen, die zur Partizipation einladen und Lust auf Transformation machen.

Forschungsmethoden

Ich befasste mich intensiv mit historischen Entwicklungen der Disziplin „Stadtplanung“ sowie aktuellen Strömungen und Konzepten für menschengerechte, urbane Transformation.

Um die lokale Situation in Leipzig (Lindenau) ganzheitlicher zu erfassen und Bedürfnisse der verschiedenen Stakeholder zu verstehen, nutzte ich folgende Methoden:

  • Expert*innengespräche (mit Mitarbeitenden aus dem Leipziger Verkehrs- und Tiefbauamt, sowie lokalen Organisationen und Initiativen im Bereich Umwelt und Verkehr)
  • wahrnehmungsschärfende Spaziergänge durchs Quartier

  • teilnehmende Beobachtung bei lokalen Bürgerbeteiligungsformaten

  • Action-Research-Installationen in der Straße (mit Umfrageformaten, Co-Creative Prototyping & Visionsbildung durch Lego-Serious-Play Format)

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»Die Realität ist radikal, nicht der Wunsch nach Veränderung.«

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Designbriefing

Aus den Ergebnissen der Recherche formulierte ich ein Designbriefing mit den Anforderungen an eine umzusetzende Designintervention.

Diese sollte eine oder mehrere der Qualitäten „Lebendigkeit, Sicherheit, Nachhaltigkeit, Gesundheit, Mobilität“ im öffentlichen Raum steigern.

Dabei waren folgende drei Aspekte besonders zu berücksichtigen:

  1. Kommunikation der Problematik (zu viele Autos im urbanen Raum und die schädlichen Folgen)

  2. Vision / Erfahrungsraum (für Alternativen zugänglich und erfahrbar machen)

  3. Interaktion & Partizipation (fördern)

Zusätzlich war mich wichtig, dass die Intervention direkt im Straßenraum stattfindet und dabei nicht illegal oder sicherheitsgefährdend ist. Sie sollte niederschwellig sein, das heißt einfach zu verstehen, schnell umzusetzen, kostengünstig und unbürokratisch.

Darüber hinaus sollte sie keinen Event-Charakter haben, sondern im „Normalbetrieb“ der Straße funktionieren und weitestgehend mit vorhandenen Mitteln (Re- / Upcycling) und lokalen Strukturen umsetzbar sein.

Experiment

Ich übersetzte die Anforderungen aus dem Designbriefing in einen Prototypen im Sinne des MVP (Minimum Viable Product) und platzierte ihn im öffentlichen Raum.

Dazu entwickelte ich die Begleitkampagne „Parkplatzpirat“, die durch einen humorvollen Markenauftritt die Aktion erklärte und dazu einlud, sich mit der Thematik nachhaltiger Mobilität und partizipativer Stadtgestaltung auseinanderzusetzen.

Teil dieser Kampagne waren lokal bezogene Visionsbilder menschengerechter Straßenraumgestaltung. Sie schafften es bei Betrachter*innen Lust auf Veränderung zu machen und die Absurdität des Status Quo aufzeigen.

In drei großen Testingphasen (jeweils eine Woche) überprüfte ich die Designlösung und passte die Gestaltung iterativ an die beobachteten Interaktionen der Nutzer*innen an. Der Prototyp war damit im Sinne der Action-Research gleichzeitig Testobjekt für die Gestaltung, als auch Intervention, da er bereits während der Testings im öffentlichen Raum wirkte.

Innerhalb weniger Tage kam es zu starkem Vandalismus, so dass das Gespann über Nacht komplett im Gebüsch landete. Am nächsten Morgen wurde es jedoch von einem Anwohner rausgeholt und wieder in der Parklücke platziert. Die Installation schien auf beiden Seiten starke Emotionen zu wecken und Interaktionen zu provozieren. Es schien als rüttele das Besetzen eines Parkplatzes mit etwas anderem als einem Auto bei vielen Menschen an sehr grundlegenden Werten und Vorstellungen von Normen und Regeln — obwohl es komplett legal und im rechtlichen Rahmen ist. 

Im zweiten Testing wurde eine Umfrage am Rad befestigt, bei der man mit Klebepunkten abstimmen konnte, ob man die Aktion gut oder schlecht findet. Innerhalb von 3 Tagen waren alle 100 Punkte geklebt wurden. 75% der Menschen waren dafür. Außerdem konnte man persönliche Botschaften hinterlassen, was einige Menschen taten. In der gesamten zweiten Testwoche kam es nicht einmal zu Vandalismus. 

Im dritten Testing wurde der Aufbau in einem anderen Quartier erprobt. Die Umfrage wurde über Nacht manipuliert, so dass das Ergebnis sehr ausgeglichen schien (55% dafür). Es kam wieder zu Vandalismus. Allerdings auch zu sehr guten Gesprächen, während ich das Fahrrad reparierte. Die Straße wurde in diesem Moment für kurze Zeit wieder zu dem ur-demokratischen Ort freien Austauschs, den wir in polarisierenden Gesellschaften und social-media-Echokammern so dringend brauchen. Das Fahrrad mit Anhänger in einer Parklücke war der geeignete Gesprächsgegenstand dafür.

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Ergebnisse

Als unbürokratischste, kostengünstigste und einfachste Form den Straßenraum alternativ mitzugestalten erwiesen sich Fahrräder mit Fahrradanhänger.

Diese dürfen ohne Sondergenehmigung genau wie Autos am Straßenrand geparkt werden. Durch die wenigen gesetzlichen Regularien (Größe, Lichttechnische Einrichtungen, keine Anmeldung, kein TÜV) sind sie niederschwellig und bieten viel Gestaltungsraum, um auf der Fläche wo sonst ein Auto steht, eine soziale und/oder ökologische Intervention im Quartier stattfinden zu lassen.

Direkte Kommunikation des Projektes und der Vision, vor allem aber einfache Interaktionsmöglichkeiten die dazu einluden, die eigene Meinung darüber kundzutun, sorgten für öffentlichen Diskurs und Meinungsbildung über die Frage, ob der Straßenraum gerecht verteilt sei und welchem primären Zweck er dienen solle.

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Implikationen und Anwendungsmöglichkeiten

Mit der Designintervention konnte eine Form niederschwelliger, unbürokratischer Bürger*innenbeteiligung gezeigt werden, die dem Individuum ermöglicht, das eigene Lebensumfeld mitzugestalten. Sie funktioniert auch als friedliche, legale und kreative Klimaprotestform, die dazu im Stande ist, Visionen und Erfahrungsräume menschengerechter Straßengestaltung im öffentlichen Raum wirksam werden zu lassen und niederschwellig zugänglich zu machen. Damit bietet sie allen Bürger*innen die Möglichkeit aktiv die Verkehrswende sowie den Straßenraum mitzugestalten und direkt zur nachhaltigen Transformation urbaner Räume beizutragen.

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Ausblick

Über die Testings im öffentlichen Raum bin ich mit Mitgliedern der „Verkehrswende Leipzig“ Gruppe sowie Klimaaktivist*innen der „Letzten Generation“ in Kontakt gekommen.

Mit beiden Gruppen stehe ich weiterhin in Austausch, um die Idee des „Parkplatz-Enterns“ mittels kreativer Fahrradanhänger zu verbreiten und weiterzuentwickeln. Dafür soll in den nächsten Monaten ein Workshopformat entstehen, bei dem sich Interessierte selbst einen solchen „Piratenanhänger“ bauen können. Zudem wird in die Idee in aktivistischen Kreisen gestreut, um eine kritische Zahl an Nachahmer*innen zu mobilisieren und perspektivisch auch medienwirksam beispielsweise ganze Straßenzüge mittels Fahrradanhängern alternativ zu bespielen und zum prototypischen Erfahrungsraum für menschengerechte Städte werden zu lassen.

Nicht zuletzt werde ich weitere eigene Prototypen bauen und diverse Interventionen im Leipziger Straßenraum testen.

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Hauptquellen und Links

Literatur:

  • Allianz der freien Straße (Hg.): „Manifest der freien Straße“. (2022). Berlin: JOVIS Verlag.

  • Jan Gehl; „Städte für Menschen“; jovis Verlag Berlin, 4. Auflage (2018) ISBN: 978-3-86859-356-3

  • Reinventing Society, Stella Schaller, Lino Teddies, Ute Scheub, Sebastian Vollmar: „Zukunftsbilder 2045 – Eine Reise in die Welt von morgen“. (2023). oekom Verlag, München

zum Lesen:

ADFC Publikation „InnoRAD — Stadtentwicklung und Radverkehr: Die besten internationalen Ideen„ (2021): 

https://www.adfc.de/artikel/projekt-innorad-innovative-radverkehrsloesungen-auf-deutschland-uebertragen/

zum Schauen:

unterhaltsamer Youtube-Kanal über Auswirkungen realer Stadtplanung: 

https://www.youtube.com/@NotJustBikes

Dokumentarfilm “The human scale„, über das menschliche Maß in der Stadtgestaltung:

https://www.youtube.com/watch?v=OlrXeh1z1LU

zum Hören:

“stadt:radar„ (Debattenpodcast der Nationalen Stadtentwicklungspolitik)

https://www.nationale-stadtentwicklungspolitik.de/NSPWeb/DE/Plattform/Veroeffentlichungen/Podcast/stadtradar_node.html

“Die Charta von Athen — Blaupause für die autogerechte Stadt?„ (Deutschlandfunk)

https://www.deutschlandfunk.de/die-charta-von-athen-blaupause-fuer-die-autogerechte-stadt-dlf-ee9e92fd-100.html